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The same procedure as every year


Sie kommen Ende Dezember und sind meist Ende Januar wieder weg. Unverbesserliche probieren es jedes Jahr aufs Neue, Andere haben es schon längst aufgegeben. Wer kennt sie nicht? Die altbekannten Neujahrsvorsätze. Nächstes Jahr mache ich mehr Sport, nächstes Jahr nehme ich mir mehr Zeit für mich, die Aufzählung ist endlos. Alte Gewohnheiten hinter sich lassen und mit neuer Energie lang vorgenommene Ziele erreichen, das ist die Idee dieser «guten Vorsätze». Nur leider ist das oft leichter gesagt als durchgehalten und die meisten Vorsätze verkriechen sich nach einer Woche wieder und warten auf den nächsten Jahreswechsel. Dann kommen sie wieder voller Tatendrang hervor und das Spiel geht von vorne los. Ich gehöre zu der ich-probier-es-nochmal Sorte und schreibe mir deshalb jedes Jahr eine Liste mit den nicht erfüllten Vorsätzen vom letzten Jahr. Entsprechend auch vom vorletzten und dem vorvorletzten. Natürlich füge ich noch ein paar neue dazu. So wird meine Aufzählung von Jahr zu Jahr länger und mein Durchhalten von Jahr zu Jahr kürzer. Tatsächlich habe ich es aber auch schon geschafft, einen guten Vorsatz in den Februar zu retten. Woran liegt es, dass es selten funktioniert aber meistens leider nicht? Die Erfolgsquote bezüglich meiner guten Vorsätze läge wahrscheinlich im tiefsten einstelligen Bereich. Das sieht wohl bei den meisten ähnlich aus. Doch damit ist jetzt Schluss, ha! Mein erster Vorsatz fürs 2023 steht dadurch schon mal fest. Als «Glücksbringer» soll einer der zahlreichen Ratgeber dienen, die zurzeit die Regale in den Buchläden füllen. Das Cover ist schonmal vielversprechend. Die Läuferin, welche als erste die Ziellinie überquert, verkörpert genau den benötigten Ansporn.


Ich überfliege das Inhaltsverzeichnis und mein Blick bleibt am dritten Kapitel hängen. «Faktoren der Motivation». Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass zu wenig Willenskraft ein Killer für jeden Neujahrsvorsatz ist. Oft ist anfangs Motivation für ein Ziel da, welche jedoch im Verlaufe des ersten Monats so schnell abnimmt, als hätte sie an meiner Stelle den vorgesehenen Diätplan durchgezogen. Der Ratgeber sagt, dass den meisten das Ziel klar ist, jedoch der Weg dorthin nicht. Das stimmt schon, denn ohne Navi ins Fitnesscamp zu reisen ist zwar möglich, jedoch viel mühsamer als mit. Ausserdem solle man den Weg in kurze Etappen einteilen, z.B. jeden Monat in einen Teilschritt, um am Ende des Jahres das grosse Ziel zu erreichen. So warte nach einer viel kürzeren Strecke ein Erfolgserlebnis und jeder Monat beginne mit einem neuen Motivationsschub. Als ich das lese, sehe ich schon Licht am Ende des Tunnels. Ausserdem solle der Grund für das Vorhaben klar sein. Bei jeder Durststrecke könne man sich an das Warum hinter dem Vorsatz erinnern und so neue Energie schöpfen. Dieses Warum sollte dabei grösser sein als alle Zweifel und Hürden. Das leuchtet mir natürlich sofort ein. Auszusehen wie ein Victoria Secret Model, könnte mich bestimmt zu mehr Sport und einer gesünderen Ernährung animieren. Am besten sei es, das Warum, den Weg und das Ziel aufzuschreiben. So könne sich das Konzept immer wieder vor Augen gehalten werden. Ich bin mir sicher, dass der Ratgeber recht behalten wird. Das Ding ist gekauft!


Zuhause stürze ich mich auf das nächste Kapitel. Stichwort Zielformulierung. Das gewählte Ziel solle keinesfalls zu hoch gesteckt sein. Es müsse gut überlegt werden, ob es realistisch sei, dieses zu erreichen. Man solle sich Fragen stellen, wie «Habe ich dafür genug Zeit?» oder «Habe ich die finanziellen Mittel dazu?». An Zeit mangelt es mir grundsätzlich und in Geld schwimme ich ja auch nicht. Damit sind schon einige meiner Vorsätze hinfällig. Aber egal, meine Auflistung ist ja lang genug. Laut Ratgeber sollten es auf keinen Fall zu viele Vorsätze sein. Trifft sich ja gut. Wichtig ist also, dass man sich nicht zu viel fürs neue Jahr vornimmt.

Im Abschnitt «Tipps und Tricks» finde ich noch einen echten Motivations-Booster. Man solle sich jemanden suchen, der den gleichen Vorsatz hat und gemeinsam einen Pakt schliessen. Kein Problem für mich, denn heute wollen ja fast alle aussehen wie die Schützlinge von Modelmama Heidi Klum. Das funktioniere jedoch nur bei gewissenhaften Personen. Ansonsten könne eine Wette vor allem bei schlechten Verlierern eine motivierende Wirkung zeigen. Volltreffer! Es gäbe zwar keine Garantie für ein Gelingen, aber es mache auf jeden Fall viel mehr Spass!


Heureka! Jetzt bin ich gut vorbereitet für einen neuen Versuch. Ich greife voller Euphorie zu Stift und Papier und nehme die guten Vorsätze vom letzten Jahr aus der untersten Schublade. «Warum, Weg, Ziel», höre ich eine Stimme in mir. Ich nehme mir das oberste Projekt vor. Ich überlege – und überlege, doch in meinem Kopf sieht es aus wie in einem Club während des Lockdowns. Nervös überfliege ich die weiteren Punkte der Auflistung. Eine dunkle Vorahnung macht sich breit. Ernüchternd wird mir klar, dass ich wohl zu viel Hoffnung in meinen neuen Freund gesteckt habe. Nach all diesen Überlegungen, was denn einen guten «guten Vorsatz» ausmacht, habe ich nicht einmal genug Motivation, um überhaupt anzufangen. Es ist mir schlichtweg zu anstrengend, mir so viele Gedanken zu machen. Ich lege meine Schreibutensilien wieder zur Seite. Als ich einen letzten Blick auf das Buchcover werfe, fällt mir auf, dass die Frau wahrscheinlich doch Langstreckenläuferin ist, denn sie sieht bei näherem Hinsehen ziemlich erschöpft aus. Dann stelle ich das Buch ins Regal, wo es mindestens 365 Tage Winterschlaf halten wird.






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