top of page

Die Stadt mit den tausend Gesichtern

Wir treffen die Vermieterin der Wohnung erst um vier am Eingang unseres Wohnhauses. Da wir mehr als 15 Minuten zu früh sind, die pünktlichen Schweizer in uns haben dafür gesorgt, warten wir in der Boulangerie auf der anderen Strassenseite auf Maria. Der Eingang des Wohnhauses ist unscheinbar und hinter dem verschlossenen Eisentor befindet sich wie erwartet auch kein Palast. Die Farbe an den Wänden bröckelt ab und von der Decke hängen Spinnennetze und lose Kabel. Im zweiten Stock steht ein staubiges Fahrrad ohne Sattel am Geländer angelehnt, welches dort vermutlich seinen Lebensabend verbringen wird. Im dritten Stock angekommen, öffnet uns Maria die Tür, erklärt uns kurz wie wir den Schlüssel am Ende unseres Aufenthaltes abgeben müssen und will schon wieder gehen. Mein Vater fragt noch, ob die Kaffeemaschine funktioniert, was Maria stolz bejaht. Wir bemerken erst am nächsten Morgen, dass der Stecker in keine Steckdose der Wohnung passt, dann trinken wir eben Tee. Das Apartement ist funktional eingerichtet und eigentlich auch ganz hübsch. Trotzdem wollen wir so schnell wie möglich raus und Marseille erkunden.


So eine Grossstadt kann ganz schön furchteinflössend sein für uns Landeier. Mit grünen und roten Ampeln nimmt man es hier nicht so genau, mit der Geschwindigkeitsbegrenzung ebenfalls nicht. Motorräder kurven zwischen den wartenden Autos hindurch und weichen wenn nötig auch mal aufs Trottoir aus. Wir spazieren ein Stück dem Hafen entlang, dem Vieux Port, und landen unerwartet am Palais du Pharo, dem Palast von Napoleon dem Dritten. Er ist auf einem grossen Gelände erbaut. Daneben die Universität von Marseille und ein grosser Park, in dem Kinder Fussball spielen und Student*innen vor offenen Büchern auf der Wiese liegen. Auf der Plattform vor dem Palast sehen wir zum ersten Mal aufs Meer hinaus. Am Horizont bildet sich die Silhouette eines riesigen Schiffes ab und man sieht über den ganzen Hafen und die Stadt. Mit dem Bus geht es zurück ins Zentrum. Am Vieux Port tummeln sich die Menschen am Kai, die Sonne steht schon tief. Es erwartet uns ein atemberaubender Sonnenuntergang. Vielleicht sogar der schönste den ich jemals gesehen habe. Die ganzen Fassaden der Stadt werden in ein goldenes Licht getaucht und das Wasser glitzert. Die Schiffsmasten sind hell beleuchtet, während der Schiffsrumpf schon im Schatten liegt. Auf der Mauer bilden sich die Silhouetten der Zuschauer des Sonnenuntergangsspektakels ab.

Vieux Port in den frühen Abendstunden

Unter anderem sitzen zwei Fischer auf umgedrehten Kisten dort. Ich kann zum ersten Mal an diesem Tag Richtung Sonne blicken, ohne meine Augen gleich wieder abwenden zu müssen. Vor allem am Nachmittag scheint die Sonne in Marseille grell und stechend hell. Nach der Dämmerung stellt sich langsam der Hunger ein und wir beginnen, uns ein Restaurant zu suchen. Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus als Vegetarierin. Wir wollen nicht einfach in die erst beste Pizzeria, wir wollen etwas Typisches für Marseille finden, die verschiedenen Esskulturen entdecken. Vielleicht etwas Orientalisches? Letztlich landen wir doch in einem Thai-Restaurant einer internationalen Kette und es ist nicht einmal besonders gut. Auf dem Küchenboden liegen Salat und andere Essensreste und auch die Kochablage ist nicht sauber. Wir gehen von Tisch zu Tisch und suchen uns den saubersten aus. Unser erster Restaurantbesuch in Marseille – ernüchternd.


Tor zum Mittelmeer


Tag zwei in der Grossstadt haben wir eine typische Touri-Rundfahrt mit dem Hop-on Hop-off-Bus geplant. Im alten Hafen startet die Fahrt im Doppelstöcker. Dem Vieux Port und später der berühmten Küstenstrasse la Corniche folgend, geht es Richtung Notre-Dame de la Garde, im Volksmund auch «La Bonne Mère» genannt. Besagte

Notre-Dame de la Garde von innen

Mutter soll in früheren Zeiten über die Handelsschiffe und deren Seefahrer gewacht haben, wenn diese den sicheren Hafen der Stadt verlassen hatten. Die grosse Kirche auf dem Hügel mit der goldenen Statue der Jungfrau Maria auf der Spitze ist eines der markantesten Wahrzeichen der Stadt. Im Inneren zieren hunderte Mosaikbilder die ganze Kirche, vom Boden über die Wände bis in den höchsten Punkt der Kuppel. An der Decke sind Girlanden mit Schiffen befestigt, deren Silhouetten sich vom prunkvollen, goldenen Hintergrund abheben. Die Schiffe sollen an die tapferen Seefahrer erinnern, lese ich auf einer Informationstafel. Bevor wir die Kirche wieder verlassen, zünde ich wie immer in Kirchen in fremden Ländern eine Kerze für meine Grosseltern an. Von der Aussichtsterrasse, welche die ganze Kirche umgibt, geniesst man einen Blick über ganz Marseille. Erst jetzt wird mir die tatsächliche Grösse dieser Stadt bewusst. Die hintersten Häuser verschmelzen mit dem Horizont und von hier oben wirken selbst grosse Gebäude wie Puppenhäuser. Weit hinter dem futuristisch aussehenden Fussballstadion Orange Vélodrome ragen an der Waldgrenze zwei riesige Wohnblöcke auf. Diese befinden sich wohl in den berüchtigten Arrondissements am Stadtrand. Die hohe Kriminalitätsrate hält uns Touristen fern von den Orten, an welchen Drogenhandel und Gewalt regieren. Während früher die Schiffs- und Schwerindustrie Einwanderer anlockte, bietet dieser Wirtschaftsbereich heute kaum noch Arbeitsplätze. Eine hohe Arbeitslosenrate und grosse Armut sind die Folge und oft ist der Drogenhandel eine naheliegende Einkommensquelle. Diese Arrondissements sind für die Polizei nur schwer unter Kontrolle zu behalten, was auch bauliche und soziale Einflussnahme der Behörden erschwert und teilweise sogar verunmöglicht.


Während der Fahrt werden wir von einer Stimme via Kopfhörer über die Geschichte Marseilles aufgeklärt. Die Metropole ist die älteste und zweitgrösste Stadt Frankreichs. Als Handelsknotenpunkt war sie schon immer der Treffpunkt verschiedenster Kulturen. Unser Ziel ist es, möglichst viele davon kennenzulernen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Einwohnerzahl von Marseille fast verdoppelt. Viele davon sind Einwanderer aus dem Maghreb, welche in den 50er Jahren mit der Hoffnung auf bessere wirtschaftliche Verhältnisse immigrierten. Zuvor waren es grösstenteils Italiener. Heute haben 90 Prozent der Einwohner von Marseille Vorfahren, welche nicht aus Frankreich stammen. So kommen unterschiedlichste Religionen zusammen. Neben christlichen Gemeinden sind hauptsächlich das Judentum und der Islam stark vertreten. Diese knapp 40 Prozent der Bevölkerung mit muslimischem Hintergrund leben vor allem in den ärmeren Vierteln. Die jüdische Gemeinde von Marseille ist ausserhalb von Israel die bedeutendste an der Mittelmeerküste. So ist Marseille nicht nur das Tor zu den Handelswegen über das Mittelmeer, sondern auch das Tor zu unterschiedlichsten Kulturen.


Arm mit Charme


Der dritte Tag in Marseille bricht mit ohrenbetäubendem Lärm im Hinterhof unseres Wohnhauses an. Wahrscheinlich ein Streit zwischen Anwohnern, es sind vor allem Männerstimmen zu hören, aber es ist mindestens eine Frau dabei. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Die Gebäude sind heruntergekommen. Der Verputz bröckelt von den Wänden und die besten Tage der holzigen Fensterläden sind schon seit langer Zeit vorbei. Es hängen lose Kabel von einem Fenster zum anderen und Belüftungsgeräte sind notdürftig mit Klebeband an den Wänden befestigt. Von einem Balkon schräg gegenüber hängen zwei rostige Fahrräder vom Geländer herunter. Die Streithähne*henne sind nirgends zu entdecken. Marseille ist keine typische Touristenstadt wie Paris oder Rom. Nicht herausgeputzt bis in die Hinterhöfe. So wie unser Hinterhof sehen vermutlich die meisten aus in Marseille, wie die Fassaden der Häuser nach aussen vermuten lassen. Geht man durch die Strassen im Zentrum, wird einem klar, dass nicht nur in den Banlieues von Marseille schlechte Lebensbedingungen herrschen. Am 5. November 2018 stürzten ganz in der Nähe unserer zentral gelegenen Unterkunft mehrere baufällige Wohnhäuser ein, dabei starben acht Menschen. Über 3000 Bewohner des Viertels Noailles wurden evakuiert. Seit diesem aufwühlenden Ereignis bemüht sich die Stadt um eine Aufwertung der zentralen Stadtteile. Doch auch das ist keineswegs unbedenklich. Wo sich heute noch günstiger Wohnraum befindet, steht morgen vielleicht ein renoviertes Gebäude mit entsprechend hohen Mietpreisen. Gentrifizierung nennt man diesen Prozess. Besonders bedroht davon ist das Viertel le Panier, welches durch Strassenkunst immer attraktiver wird für Studierende, Künstler*innen und Tourist*innen. Dadurch entstehen eine alternative Szene, neue Clubs, Geschäfte und Restaurants. Bald werden sogenannte Gentrifier aufmerksam auf das aufblühende Viertel und investieren in die renovationsbedürftigen Häuser. Folglich steigt der Preis von Wohnraum und die ursprünglichen Bewohner werden dadurch an den Stadtrand vertrieben. Ein sich selbst verstärkender Prozess, welcher, einmal ins Rollen gekommen, nur noch schwer zu stoppen ist. Für die Stadt ein Gewinn, denn die Gebäude werden vor dem Verfall bewahrt und reichere Bevölkerungsgruppen werden in die Stadt gelockt, was mehr Steuereinnahmen bedeutet. Für die ursprünglichen Bewohner der Häuser führt die Gentrifizierung jedoch zum Verlust ihres Zuhauses. Zum Glück ist es im Zentrum von Marseille noch nicht so weit, da sich die Bewohner deutlich gegen den Prozess wehren. Ob er sich dadurch aufhalten oder nur verlangsamen lässt, bleibt offen. Wir wollen uns das ganze aus der Nähe ansehen und so steht das Tagesprogramm fest. Es geht ins Panier, das älteste Viertel der Hafenmetropole.


In Le Panier treffen die zwei Gesichter von Marseille mit voller Wucht aufeinander. In diesem Labyrinth aus schmalen Gassen und kleinen Plätzen treffen Strassenkunst und kleine Boutiquen auf bröckelnde Fassaden und Uringeruch. Wir schlendern durch das Viertel und ich bleibe alle fünf Meter stehen, um ein Foto von einem Graffiti oder einer mit Pflanzen umrahmten Tür zu knipsen. Das Quartier wirkt, als wäre es in einen

Platz im Panier-Viertel

Farbtopf gefallen, oder noch besser in verschiedene. Keines der schmalen Häuser hier gleicht dem anderen. Von einem Fenster zum anderen sind Leinen gespannt, an welchen Wäsche in der warmen Morgensonne trocknet. In der nächsten Gasse entdecke ich einen Strauch an der Wand eines gelben Hauses. An den Ästen sind Schuhe, Glühbirnen und Bilder aufgehängt. Ich versuche, jedes Detail mit der Kamera einzufangen, und wir kommen fast nicht vom Fleck. Steile

Kopfsteinpflasterstrassen und Treppen verzweigen sich im Panier wieder und wieder. Aber nicht immer erwartet einen um die Ecke ein lauschiger Platz mit Kaffees und einem Baum in der Mitte. Es können auch mal eine kahle Hauswand mit unschönen Graffitisprüchen oder zerschlissenen Plakaten, ein spröder Plastikstuhl oder eine randvolle Mülltonne sein. An der nächsten Kreuzung wieder ein kleines Atelier wie aus dem Bilderbuch, an einem idyllischen Platz mit Tischen und Stühlen, welche zum Verweilen einladen. Als wir uns nach zwei Stunden herumspazieren sicher sind, jede Gasse im Viertel mindestens einmal abgeschritten zu sein, verlassen wir Le Panier und treten auf einen grossflächigen, weissen Platz. Wir stehen vor der Kathedrale von Marseille.


Farbenspiele


Mein Blick schweift von der untersten Steinreihe der breiten Mauern über den imposanten Torbogen bis hinauf zu den Spitzen der hohen Kuppeln auf den beiden Glockentürmen. Die Kathedrale von Marseille ­­liegt in ganzer Pracht vor uns. Die aussergewöhnliche Fassade der Bischofskirche zeichnet sich durch den streifenweisen Wechsel von dunklem und hellem Stein aus. Als wir über die breite Treppe hinaufsteigen und unter dem 30 Meter hohen Torbogen hindurchgehen, treten wir in eine andere Welt. Meine Augen müssen sich nach dem grellen Sonnenlicht draussen zuerst an das dämmerige Licht in dem riesigen Raum gewöhnen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und betrachte die von massiven

Lichtreflektion in der Kathedrale von Marseille

Steinpfeilern getragenen byzantinischen Kuppeln und Bögen. Nachdem ich staunend einen Moment stehengeblieben war, lasse ich meinen Blick über die Holzbänke im Mittelschiff schweifen. Er bleibt an den Mosaiksteinchen vor meinen Füssen hängen. Der gesamte Boden ist gesäumt mit figürlichen und ornamentalen Mosaiken. Durch die hohen Fenster dringt wenig Licht, welches vereinzelt farbige Muster auf den dunklen Boden wirft. Ich versuche, die märchenhafte Stimmung mit meiner Kamera einzufangen und entdecke dadurch Details, die mir den Atem rauben. Als wir wieder auf den weissen Platz vor der Kirche treten, muss ich meine Augen sofort schliessen, um sie vor dem gleissenden Sonnenlicht zu schützen. Ich muss mir unbedingt eine Sonnenbrille besorgen. Das schreibe ich mir auf die imaginäre Liste in meinem Kopf. Jetzt geht es erst einmal zurück in die Stadt.



Bei einem Sandwich besprechen wir die Pläne für den restlichen Tag. Vielleicht in ein Museum? Ein Blick auf den Wetterbericht schliesst diese Option gleich wieder aus. Für Samstag ist Regen angesagt, was eine perfekte Gelegenheit für einen Museumsbesuch bietet. Ich sehe hinüber zum Hafen. Mein Blick fällt auf

Lichtspiel auf Säule der Kathedrale

das Werbeschild eines Anbieters für

Bootsausflüge, welcher Nachmittagstouren der Küste entlang anpreist. Wir überqueren die Strasse und steuern auf das Tickethäuschen zu. Die Verkäuferin erklärt uns kurz und knapp die verschiedenen Optionen. Wir entscheiden uns für die längste Tour. Sie führt der Küste entlang bis zum Naturschutzgebiet Calanque. Wir haben noch 20 Minuten Zeit, um Wasser, Tabletten gegen Seekrankheit und besagte Sonnenbrille zu kaufen. Es zeigt sich einmal mehr, wenn man etwas Bestimmtes sucht, arbeitet die Zeit gegen einen. Es wird ziemlich knapp, aber am Schluss stehen wir etwas ausser Atem am Steg. Die Tour ist mehr als ausverkauft und wir setzen uns auf den Boden des oberen Decks. Gemächlich tuckert das Schiff aus dem Hafen. Wir fahren an tausenden von kleinen Fischer- und Freizeitbooten vorbei. Am Hafeneingang ragen links und rechts die Festungen Fort Saint-Jean und Fort Saint-Nicolas auf. Erstere werden wir an unserm letzten Tag in Marseille noch etwas genauer kennenlernen. Unser Boot verlässt den Hafen und nimmt langsam Fahrt auf. Durch den Lautsprecher erzählt der Kapitän etwas auf Französisch über die beiden Inseln direkt vor der Küste. Ich schweife schnell ab und geniesse einfach diese neue Sicht auf die Stadt. Der Küste entlang geht es immer weiter nach Süden und ich bin überrascht, wie schnell die Grossstadt in scheinbar unberührte Natur übergeht. Die charakteristischen weissen Felsmassive umgeben märchenhafte Buchten.

Die Bucht calanque de sugiton

Die Farbe des Wassers geht von Tiefblau in die verschiedensten Grün- und Türkistöne über. Das mediterrane Flair erinnert mich an Sardinien und lässt die ultimative Ferienstimmung in mir aufkommen. Der Duft von Meer und Pinienwäldern vermischt sich in der Luft. Das Boot steuert drei verschiedene Buchten an, dann machen wir uns auf den Rückweg. Mit einem grösseren Abstand zur Küste beschleunigt der Kapitän das Schiff und ich bin froh über die Übelkeitstablette. Die Wellen schlagen in rhythmischen Abständen an den Rumpf und jedes Mal spritzen mir ein paar Tropfen Salzwasser auf die Haut. Ein eisiger Wind kommt auf und ich beginne zu frieren. Als wir anderthalb Stunden später wieder in den Hafen einfahren, steht die Sonne schon tief und taucht den Palais du Pharo in goldenes Licht. Am Landungssteg angekommen, bin ich froh, endlich wieder festen Boden unter den Füssen zu haben.


Am Abend essen wir syrisch. Wir finden ein kleines Restaurant in der Nähe des Bahnhofs. Es befindet sich in einer Seitenstrasse und ist etwas versteckt. Trotzdem ist es an einem Freitagabend gut besucht. Auf den Tischen liegen schmale Tischläufer, worauf Salz und Öl in bemalten Tongefässen stehen. An den Wänden hängen Fotografien von Steppenlandschaften und auf allen Ablageflächen im Gastraum stehen filigrane, vergoldete Teekrüge. Wir bestellen den vegetarischen Falafel-Teller und jeweils einen hausgemachten Pfefferminzeistee. Beides schmeckt unglaublich gut und dazu gibt es ein hausgemachtes Fladenbrot. Mir fällt auf, dass sowohl in der Küche, wie auch im Service, nur Männer arbeiten. Als wir Baklava zum Dessert bestellen, erfahren wir, dass dieses von den Frauen der Mitarbeiter gemacht wurde. Geschäft ist scheinbar Männersache.

Made in Marseille

Unser letzter Tag vor der Abreise beginnt nicht mit Sonnenschein wie die bisherigen. Zum Glück haben wir einen Regenschirm dabei. Nach dem Frühstück geht es zum Seifenmuseum. In einem bescheidenen Ausstellungsraum erfährt man alles über die berühmte Savon de Marseille. Einige Errungenschaften auf dem Weg zur Seife, die wir heute kennen, kamen aus den Seifenfabriken von Marseille. Die typisch kubische Form mit der Stanzung ist uns während unseres Aufenthalts schon oft aufgefallen. In gefühlt jeder zweiten Strasse von Marseille trifft man auf ein Seifengeschäft. Dabei müsse man jedoch aufpassen, nicht unwissend Seife aus China oder der Türkei zu kaufen. Leider werde heute nur noch ein Bruchteil der Savon de Marseille tatsächlich in der Stadt hergestellt, erklärt uns ein Mitarbeiter des Museums. Nachdem wir im interaktiven Teil des Museums unsere eigene Seife mit Lavendelduft hergestellt haben, geht es weiter zum MuCEM.

Musée des civilisations et de la Méditerranée in Marseille

Das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers ist schon allein seiner Architektur wegen sehenswert. Die aktuelle Ausstellung behandelt die Entwicklung der Esskultur der mediterranen Küche. Der deutsche Audioguide funktioniert leider nicht und das Lesen wird schnell anstrengend. Mehr als die Ausstellung selbst, interessiert mich die spezielle Architektur des MuCEM. Das Gebäude wird von einer Art Netz aus Beton umhüllt, welches von weitem einem fliessenden Stoff gleicht. Zusammen mit der inneren Glasfassade ergibt das eine bewegte Spiegelung. Zum Glück sind nicht viele Besucher*innen unterwegs und ich muss nicht lange warten, um die langen Gänge ohne Menschen zu fotografieren. Die Dachterrasse wird von einem langen Steg mit der Festung Fort Saint-Jean verbunden. Diese wurde 1660 am Eingang des Vieux Port erbaut und bildete den Anfang der Hafenstadt. Sie wurde während dem Zweiten Weltkrieg teilweise durch eine Explosion zerstört. Die beschädigten Teile wurden jedoch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder rekonstruiert.



Über eine zweite Fussgängerbrücke ist es möglich, direkt ins Panier Viertel zu gelangen. Von dort spazieren wir zurück zum Vieux Port und dann ins Viertel Noailles. Es ist eines der multikulturellsten der Stadt. Neben orientalischen Haushaltsgeschäften reihen sich Gemüsehändler und arabische Bäckereien aneinander. Es ist ein buntes Treiben in den engen Gassen. Wir sind in eine andere Welt versetzt. Es wird gerufen, gehandelt und gekauft und mir wird schnell klar, dass hier nicht nur Touristen einkaufen. Hier kauft die Familie aus Tunesien bei ihrem Tunesier des Vertrauens ein. Hier bringen die Einwanderer ein Stück ihrer Heimat nach Marseille. Mich ziehen die abgedunkelten Verkaufsräume magisch an. Sie sind zur Strasse hin ganz geöffnet und riesige Auslagen an Körben, Teppichen und Schwämmen versuchen, die Kundschaft anzulocken. Mir steigt der Duft von Räucherstäbchen in die Nase, als ich den ersten Laden betrete. Der Raum wird nur durch orientalische Lampen an den Wänden erleuchtet. Hunderte Schachteln mit Gewürzen und Pflanzen sind auf den Verkaufstischen ausgebreitet. Ich erkenne die wenigsten. Es ist alles neu und unbekannt, was mich ein wenig überfordert. Der Verkäufer erkennt uns sofort als potenzielle Kundschaft und beginnt uns die heilende Wirkung der verschiedenen Pflanzen zu erklären. Auch wenn mich der Anblick des Ladens sofort in seinen Bann zieht, vergeht mir die Lust etwas zu kaufen, als ich in einer der Kisten eine Made krabbeln sehe. Lächelnd und ohne etwas zu kaufen, verlassen wir den Laden wieder. Im nächsten Geschäft sieht es betreffend Hygiene schon etwas besser aus. Die Esswaren werden hier in geschlossenen Behältern aufbewahrt und wir decken uns mit Gewürzen und kandierten Früchten ein. Auf der Strasse pulsiert das Leben und die unterschiedlichsten fremden Sprachen dringen an mein Ohr.


Am nächsten Tag packen wir schon früh am Morgen unsere sieben Sachen zusammen. Auf dem Weg zum Bahnhof Marseille-Saint-Charles bestellen wir unser letztes französisches Croissant und einen Kaffee. Wir beobachten das rege Treiben in der Hafenstadt. Die Bistros sind so früh an diesem Wochentag bereits gut besucht und auf den Strassen verkehren Autos und Motorräder wie Ameisen. Kurz darauf geht es mit der Metro Richtung Saint-Charles. Auch hier drängen sich schon hunderte von Menschen in der grossen Eingangshalle aneinander vorbei. Ich möchte unbedingt noch meine Postkarten aus Frankreich versenden, aber nirgends in diesem Bahnhof ist auch nur eine einzige Briefmarke zu finden. Etwas enttäuscht begeben wir uns zum Bahnsteig 12. Der Zug ist fast leer als wir einsteigen und das bleibt auch so bis er langsam ins Rollen kommt. Aus dem Fenster erhasche ich einen letzten Blick auf die unverkennbare Fassade des MuCEMs und das Meer. Marseille hat mich vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen. Eine Stadt voller pulsierendem Leben, welche nicht für eine Minute ruht. Fassaden die bröckeln neben prunkvollen Kirchen, ein Treffpunkt verschiedenster Kulturen und Sprachen. Ich habe längst nicht alle Gesichter Marseilles kennengelernt und vielleicht komme ich ja wieder, um weitere zu entdecken.


Die Skyline von Marseille mit der Kirche Notre-Dame de la Garde

bottom of page