top of page

Cité de 4000


Mit einem Zischen schliessen sich die Türen des Busses. Ich spüre einen leichten Ruck als sich die Bremsen lösen und er langsam ins Rollen kommt. Das laute Brummen des Motors dringt zu mir durch und ich schrecke auf, als ein lautes Hupen ertönt. Als ich meine Augen öffne, sehe ich gerade noch einen Sportwagen links am Bus vorbeibrausen. Es ist schwer die Farbe zu erkennen, da es draussen schon stockfinster ist. Nur der Schein der Strassenbeleuchtung erhellt die Dunkelheit, es ist Neumond. Ich denke an meinen grossen Bruder, der noch in meiner Heimat lebt. Astronomie war schon immer seine grosse Leidenschaft. Jedenfalls ist es draussen deshalb so dunkel, weil der Mond heute Nacht Ferien macht. Es könnte sein, dass es ein roter Sportwagen war, aber vielleicht war das auch nur eine Reflektion in der Fensterscheibe. Ausser dem Motorengeräusch ist im Bus nichts mehr zu hören, nur ganz leise nehme ich die Reggae Musik wahr, die aus dem Radio des Busfahrers erklingt. Es könnte der Lieblingssong meiner Mutter sein "Could You be loved" von Bob Marley. Mein Ding ist das ja überhaupt nicht. Mein Vater hat den Song gespielt, als meine Mutter ihn das erste Mal auf der Bühne gesehen hat. Früher hat sie ihn ständig gehört. Kam ich als Kind von der Schule nach Hause, drangen aus der Küche unserer Wohnung nicht selten die Stimmen von Bob Marley und meiner Mutter. Eine Zeit in der wir noch glücklich waren, noch sicher. Ich werde von der monotonen Stimme des Busfahrers aus meinen Gedanken gerissen, welcher durch den Lautsprecher die nächste Haltestelle ansagt. Ich stehe auf und drücke auf den Stopknopf beim Sitz auf der anderen Seite des Ganges, an meinem klebt ein Kaugummi. Die Anzeige vorne im Bus zeigt jetzt rot das Wort STOP an. Der Busfahrer wirft einen Blick in den Rückspiegel und ich lächle kurz. Er lächelt nicht zurück, vielleicht hat er mich nicht gesehen. Der Bus biegt in die Strasse ein und hält kurz darauf. Ich warte ungeduldig, bis sich die Tür öffnet und steige noch aus, bevor sie ganz offen ist. Ein grosser Schritt ins freie und ich spüre die kalte Nachtluft auf meiner Haut. Eine Gänsehaut zieht sich über meine Arme und ich halte mir die Jacke zu. Den Reissverschluss kann ich seit heute Morgen nicht mehr schliessen. Mit einem Zischen schliesst die Tür hinter mir. Der Bus löst seine Bremsen und ich spüre den überhitzten Motor an meinem Rücken vorbeiziehen. Dann ist es kalt und still. Ich habe mich noch nicht bewegt, seit ich ausgestiegen bin. Jetzt beginne ich zu gehen, ich laufe fast. Ich hasse es, allein durch die Nacht zu ziehen, besonders in diesem Viertel. Es sind nur 500 Meter bis zu meinem Ziel und trotzdem fühlt es sich jedes Mal wie eine Ewigkeit an, bis ich es erreiche. Auf der anderen Strassenseite stehen ein paar Männer um die fünfzig an einem der Stehtische vor dem Kiosk. Die grelle Neonbeleuchtung taucht ihre Gesichter in ein kaltes Weiss und ihr Lachen verzieht diese zu unheimlichen Fratzen. Ich gehe noch schneller, wende meinen Blick wieder zurück auf den Boden. Ihre lauten Stimmen verfolgen mich noch, bis ich um die nächste Strassenecke biege. Hier wird die dunkle Nacht durch die Neonanzeigetafeln gebrochen. Schriftzüge und blinkende Pfeile laden in Clubs und Bars ein. Eines der Lokale trägt den Namen «L’Aigle». In grünen Neonbuchstaben ist der Schriftzug an die Hauswand über dem Eingang angebracht. Aus dem Lokal dringt laute Musik und Stimmengewirr. Durch die Scheibe sehe ich ein Fussballspiel im Fernseher flimmern. Als ich vorbeigehe, verfehlt ein Schuss ganz knapp das Tor, und die Zuschauer lehnen sich enttäuscht wieder auf ihren Stühlen zurück. An einem Freitagabend wie heute sind die Bars alle bis zum Platzen voll. Eine Gruppe betrunkener Jugendlicher kommt mir entgegen, grölend und schwankend. Als wir uns gekreuzt haben, beschleunige ich meine Schritte, ohne zurückzusehen. In die nächste Gasse muss ich rechts einbiegen. Sie ist schmal und ich muss mich an einem Pärchen vorbezwängen, das rauchend an der Hauswand lehnt. In der Gasse ist es dunkel. Die schwache Beleuchtung von der Strasse her, lässt mich kaum die Graffiti Schriftzüge an den Wänden erkennen. Die Musik aus den Bars und die Rufe von betrunkenen Partygästen dringen durch die schmale Gasse und hallen dumpf von den hohen Wänden wider. Die dunklen Hauseingänge alle paar Meter sind mir unheimlich. Jedes Mal, wenn ich an einem vorbeigehe, beschleunige ich nochmals meine Schritte. Ich komme ein wenig ausser Atem am Eingang des Spielplatzes an, welchen ich auf meinem Weg durchqueren muss. Das schmale Eisentor öffnet sich mit einem Ruck, als ich die kühle Falle herunterdrücke und mein Gewicht leicht dagegen lehne. Es ist verrostet und klemmt deshalb. Ich lasse meine kalten Hände in den Jackentaschen verschwinden, nachdem ich das Tor hinter mir zuziehe. Mit grossen Schritten gehe ich den Weg entlang und sehe mich auf dem düsteren Spielplatz um. Wo tagsüber Kinder aus meinem Wohnblock spielen und lachen, ist jetzt eine dunkle, stille Leere. Ich zucke zusammen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Ich fahre herum, doch sehe nichts als den Weg, die Klettergerüste und Bäume. Nach kurzem Zögern wende ich mich ab und gehe weiter. Vielleicht war es eine Katze oder der Schatten eines Baumes, dessen Äste sich im Wind wiegen. Ich mache möglichst grosse Schritte, um mein Ziel bald zu erreichen. Auf den letzten fünfzig Metern beginne ich zu rennen. Vor mir ragt das mehrstöckige Gebäude auf. Die meisten Fenster sind dunkel, nur durch wenige dringt Licht auf den Parkplatz, welchen ich, immer noch rennend, überquere. Ich lebe seit knapp einem Monat in einer kleinen Wohnung. Hier, in einem Vorort von Paris leben die Ärmsten der Armen. In der Wohnung über mir lebt eine senegalesische Familie mit fünf Kindern in einer 3-Zimmer Wohnung. Ich habe Glück, dass ich endlich eine Stelle gefunden habe und mir eine Wohnung leisten kann. Ohne die Sprache zu können, in einem fremden Land, ist es nicht einfach einen Job zu bekommen. Vor zwei Monaten habe ich eine Putzfirma gefunden, welche mich eingestellt hat und einen fairen Lohn zahlt. Ich verdiene sogar genug, um jeden Monat etwas nach Hause zu schicken. Seit der Laden meines Vaters nicht mehr da ist, haben meine Eltern es schwer, über die Runden zu kommen. Mein Bruder ist Arzt, aber das Krankenhaus, in dem er arbeitet, macht seit Jahren immer mehr Kürzungen. Hier in Frankreich verdiene ich fürs Putzen mehr als er. Wenn ich hart arbeite, werde ich vielleicht befördert und kann dann endlich meine Familie nachholen. Ich bremse ab und beginne in meiner Umhängetasche nach dem Hausschlüssel zu suchen. Als ich das kalte Eisen ertaste, atme ich erleichtert auf. Mit der Hand noch in der Tasche blicke ich auf und bleibe ruckartig stehen. Auf der Stufe vor dem dunklen Hauseingang sitzt eine Gestalt. Es ist nichts als die schwarze Silhouette zu erkennen. Es muss ein Mann sein, da die Person breite Schultern hat. Er hebt den Kopf, aber sein Gesicht wird von der Kapuze verdeckt. Er muss mich erblickt haben, denn er steht langsam auf. Er ist grossgewachsen und verdeckt fast den ganzen Eingang. Zwischen uns liegen keine zehn Meter. Mir gefriert das Blut in den Adern und gleichzeitig höre ich meinen eigenen Herzschlag immer schneller werden, als er einen Schritt auf mich zu macht. Ich will mich umdrehen und davonrennen, doch mein Körper gehorcht mir nicht. Er hat seinen Kopf wieder gesenkt. Als er nur noch eine Armlänge von mir entfernt ist, erwache ich endlich aus meiner Schockstarre. Ich weiche mehrere Schritte zurück und stolpere fast. Dann drehe ich mich ab und will davonlaufen, als eine Stimme erklingt. Eine Stimme, die ich unter tausenden erkennen würde. Mein Name. Noch einmal. Ich bin stehen geblieben, habe dem Mann immer noch den Rücken zugewendet. Nach Sekunden legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich spüre die Tränen auf meinen kalten Wangen. Das kann nicht sein! Wie kann das sein? Ich drehe mich endlich um und seine Arme umfassen mich. Fangen mich auf, als ich drohe zu zerbrechen. «Ich habe dich vermisst, Schwesterherz.»













bottom of page